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HAGEN: Öffnungsschritte sind größtenteils halbherzig

Der Bayerische Landtag hat heute in einer Sondersitzung über die neue Corona-Strategie der bayerischen Staatsregierung debattiert. Der Fraktionsvorsitzende der Landtags-FDP Martin Hagen hielt folgende Rede:

"Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

bemerkenswert, wie sich die Dinge in einem Monat doch ändern können:

Vor einem Monat haben Sie, Herr Ministerpräsident, hier noch die Absenkung des Inzidenz-Grenzwerts von 50 auf 35 verteidigt. Wir hatten das kritisiert. Jetzt ist die 35 wieder vom Tisch und die 50 ist zurück.

Vor einem Monat haben Sie uns an dieser Stelle erklärt, warum ein Stufenplan, wie wir ihn fordern, angeblich nicht umsetzbar sei. Jetzt hat die MPK einen eigenen Stufenplan beschlossen.

Vor einem Monat haben Sie noch öffentlich Sympathien für eine NoCovid-Strategie geäußert, Gedanken, von denen Sie sich hier gerade ausdrücklich distanziert haben mit den Worten, das sei in unserer freien Gesellschaft nicht umsetzbar.

Respekt, Herr Ministerpräsident. Sich selbst zu korrigieren erfordert Mut, es ist kein Zeichen von Schwäche, sondern ein Zeichen von Größe. Wir Freie Demokraten begrüßen diesen Kurswechsel, auch wenn es noch ein zaghafter ist. Wir begrüßen, dass die Regierung jetzt anerkennt, dass dieses Virus in der Welt ist und bleiben wird und dass wir lernen müssen, damit zu leben und schrittweise wieder öffentliches Leben zu ermöglichen.

 

Sie haben freilich auch gemerkt, Herr Ministerpräsident – und das wird Ihren Kurswechsel befördert haben – dass die Stimmung kippt. In der Bevölkerung, aber auch hier im Parlament, wo Sie zuletzt eigentlich nur noch ganz links, bei den Grünen, echten Rückhalt für Ihre strenge Lockdown- und Verbotspolitik gefunden haben. In Ihren eigenen Reihen wurden die kritischen Stimmen immer lauter.

Die Stimmung kippt, weil die Menschen nach vier Monaten Lockdown müde werden, mürbe werden. Weil die Kollateralschäden, die dieser Lockdown verursacht, von Woche zu Woche dramatischer werden. Weil die Menschen sehen, dass es auch anders geht, dass in anderen europäischen Ländern um uns herum die Kinder zur Schule gehen, Läden und Restaurants geöffnet haben.

Weil sie das Versprechen vom Lockdown, der alles in Ordnung bringt, wenn man nur noch ein kleines bisschen länger durchhält, die Zähne nur noch ein klein bisschen fester zusammenbeißt, nach vier Monaten und diversen Verschärfungen einfach nicht mehr glauben. Und zurecht: Dieses Instrument ist ausgereizt. Sie können immer kleinteiligere Regeln beschließen, immer repressivere Maßnahmen, immer schärfere Kontrollen – es wird am Ende nur den Frust der Bevölkerung steigern, aber nicht den Infektionsschutz.

 

Die Stimmung kippt aber vor allem auch deshalb, weil die Menschen sehen, dass die Regierung, die ihnen so viel abverlangt, ihnen so viel zumutet, bei ihren eigenen Hausaufgaben kläglich versagt:

Während Österreich schon seit Wochen Schnelltests flächendeckend in Schulen einsetzt und kostenlos an die Bürger verteilt, beginnt die Bundesregierung jetzt, Anfang März, mit der Einrichtung einer Taskforce Testlogistik. Dass dieser Arbeitskreis auch noch ausgerechnet von Andi Scheuer geleitet werden soll, ist ein Treppenwitz am Rande.

Während die amerikanische Regierung ankündigt, bereits Ende Mai – also zwei Monate früher, als geplant – genügend Impfstoff für alle erwachsenen Bürger im Land zu haben, warten bei uns noch über 80-Jährige auf ihren Impftermin. Und die Kanzlerin ist der Meinung, wir hätten bei der Impfstoffbestellung 'das Menschenmögliche getan'. Wenn das stimmt, dann müssen in Ländern wie Israel, Großbritannien oder den USA ja echte Übermenschen am Werk sein.

Und zum Versagen bei der Impfstoffbeschaffung kommt jetzt auch noch das Versagen bei der Impforganisation. Einerseits haben wir zu wenig Impfstoff, andererseits liegen zwei Millionen Dosen Astra Zeneca unverimpft auf Halde, Tendenz steigend.

Da muss in dieser Krise irgendwann auch mal gelten: Schnelligkeit vor Gründlichkeit. Israel impft in Bars, Amerika in Drive-In-Stationen, Deutschland lähmt sich mit bürokratischen Verfahren oft selbst.

Wir machen heute mit unserem Dringlichkeitsantrag konkrete Vorschläge für mehr Tempo beim Testen und mehr Tempo beim Impfen. Weil das auch bedeutet, dass mehr Tempo beim Öffnen möglich ist. Testen, Impfen, Öffnen statt Lockdown, Lockdown, Lockdown. Das ist unser Credo.

 

Wir wollen öffentliches Leben ermöglichen, nicht verhindern. Wir wollen Begegnungen Corona-sicher gestalten, anstatt sie zu unterbinden. Mit Schnell- und Selbsttests, Luftreinigern, Hygienekonzepten und einer funktionalen Corona-App wie Luca. Da sollte die Staatsregierung jetzt schleunigst eine Vernetzung mit den IT-Systemen der bayerischen Gesundheitsämter veranlassen.

Ein Lockdown taugt als Notbremse – nicht als dauerhafte Lösung. Ein Lockdown verschafft der Politik etwas Zeit, Dinge nachzuholen, die sie vorher versäumt hat. Diese Zeit muss sie aber auch nutzen und ihre Hausaufgaben erledigen. Wer als Politiker einen Lockdown verhängt, der sollte ihn als Arbeitsauftrag verstehen, nicht als bequeme Ausrede für Pfusch und Bummelei.

Die Zweifel am Corona-Management der Regierenden wachsen, die Zufriedenheit hat einen neuen Tiefpunkt erreicht. Neuste Zahlen aus dem Deutschlandtrend: 65 Prozent der Bürger sind unzufrieden mit der Begründung der Maßnahmen durch die Politik. 66 Prozent sind unzufrieden mit der Bereitstellung von Schnelltests. 67 Prozent mit der Organisation des Schulbetriebs. 69 Prozent mit den Hilfen für die Wirtschaft. 73 Prozent sind unzufrieden mit der Organisation der Impfungen und 74 Prozent mit der Impfstoff-Beschaffung.

Vor der zweiten Welle haben Sie versäumt, das umzusetzen, was wir schon im Sommer vorgeschlagen hatten – etwa den Schutz von Altenheimen oder die Digitalisierung der Gesundheitsämter. Da haben Sie ja inzwischen endlich nachgebessert. Gut so. Lassen Sie die Bürger jetzt vor einer möglichen dritten Welle nicht wieder hängen!

Herr Ministerpräsident, Sie haben gestern gesagt, die Bürger stünden jetzt in der Verantwortung für die weitere Entwicklung der Pandemie. Das stimmt. Aber auch Sie stehen in der Verantwortung, die Regierenden in München und Berlin. Und die Bürger erwarten, dass Sie dieser Verantwortung auch gerecht werden.

Die von Ihnen jetzt beschlossenen Öffnungsschritte sind teilweise überfällig, insbesondere was die Öffnung der Schulen betrifft, weil Kinder ganz erheblich unter dem Lockdown leiden, sie brauchen den Unterricht und sie brauchen auch den Kontakt zu ihren Mitschülern.

Teilweise sind Ihre Öffnungsschritte auch schlicht ein Zugeständnis an die Realität – ich denke an die Lockerung der Kontaktbeschränkungen, an die sich die Bürger – sind wir ehrlich – ohnehin nicht gehalten haben, weil sie – das habe ich hier schon bei ihrer Einführung im Januar kritisiert – einfach lebensfremd waren, gerade mit Blick auf Familien mit Kindern.

Größtenteils sind Ihre Öffnungsschritte aber vor allem eines: halbherzig. Nehmen Sie etwa den Handel – warum darf man ab 8. März Bücher verkaufen, aber keine Kleidung? Ich bin gespannt, was die Gerichte dazu sagen. Oder die Außengastronomie – alle Experten sind sich einig, dass das Infektionsrisiko an der frischen Luft minimal ist, wir könnten da sofort aufsperren – bei Ihnen erst im vierten Öffnungsschritt. Innengastronomie und Hotellerie haben nach wie vor gar keine Perspektive, selbst mit professionellsten Hygienekonzepten.

Und dazu kommt noch eine ganz grundlegende Kritik an Ihrem Öffnungsplan: Er orientiert sich weiterhin einzig an der Meldeinzidenz. Die natürlich erst mal ansteigen wird, wenn wir jetzt anfangen, verstärkt zu testen – weshalb wir eine Bereinigung dieser Zahl vorschlagen, wir müssen die Anzahl an Tests berücksichtigen.

Und die auch generell kein umfassendes Bild der Lage gibt. Das RKI schrieb letzte Woche: 'Die automatische Kopplung der Intensitätsstufen an einen einzelnen Indikator (wie z. B. Inzidenz) ist nicht ausreichend, um die Komplexität des Infektionsgeschehens sowie die tatsächliche Belastung des Gesundheitssystems der Bevölkerung durch Covid-19 abzubilden.'

Das predigen wir hier seit einem dreiviertel Jahr. Jetzt steht es schwarz auf weiß in einem Papier des RKI. Und wenn ich mir den heutigen Dringlichkeitsantrag von CSU und FW durchlese, sieht das offenbar auch Ihre Regierungskoalition mehrheitlich so. Es ist ja auch einleuchtend: Es macht eben einen ganz erheblichen Unterschied, ob sich 50 junge, gesunde Menschen infizieren oder 50 alte Menschen mit Vorerkrankungen.

Und in dem Maße, wie wir jetzt Schritt für Schritt die Risikogruppen durchimpfen, sinkt automatisch der Anteil von schweren und tödlichen Verläufen. Entspannt sich die Situation auf den Intensivstationen. Weshalb unser Stufenplan neben den Infektionszahlen und der Infektionsdynamik auch die Krankenhauskapazitäten und den Impffortschritt mitberücksichtigt. Das ermöglicht eine schnellere Rückkehr zur Normalität als die reine Fixierung auf Inzidenzwerte.

 

Für uns Freie Demokraten ist klar: Dieser Lockdown, dieser drastischste Grundrechtseingriff in der Geschichte unserer Republik mit seinen fürchterlichen Folgeschäden für Wirtschaft, für Gesellschaft und für den einzelnen Bürger, er darf keinen Tag länger Bestand haben als unbedingt notwendig. Nicht die Freiheit ist in einem freien Land begründungspflichtig, sondern immer ihre Einschränkung! Und von diesem Grundsatz lassen wir Freie Demokraten uns weiterhin leiten."